Timm Ulrichs, Katalog „Timm Ulrichs presents“, Bergkamen 1976

In heutiger Kunstpraxis gilt eher eine Kunst des Weglassens, ein „Weniger-ist-mehr“ als eine Kunst der Fülle und Überfülle, bei der Quantität in Qualität umschlägt oder – ohne Umschlagspunkt – beide Begriffe sich bedingen. Dieses „Mehr-ist-mehr“ charakterisiert – nomen est omen, wenn man so will – fast im Übermaß die zeichnerischen Arbeiten Egbert von der Mehrs, der, „befallen“ von einem Horror vacui, die Bildflächen bis zum Äußersten, bis in die äußersten Ecken und Winkel mit seinen Vorstellungs-Bildern besetzt, vollstopft, als gälte es, den Bildraum wie eine Arche Noah vollständig und vollzählig mit allem zu bevölkern (und das am besten in gleich mehrfacher Ausfertigung), was in seinem Kopf Gestalt annimmt. Diese Zeichnungen sind schwer zu entziffern nicht etwa, weil hier eine private, geheime oder unleserliche Handschrift geschrieben würde, sondern weil diese fürs bloße Auge fast zu klein ist. Das von-der-Mehrsche Panoptikum oder Pandämonium oder Theatrum Mundi kennt keinen rechten Anfang, kein definitives Ende; was da an fürchterlichen Dingen passiert, geht weit hinaus über das Bildformat, ist in der Tat nicht in einem Bild zu fassen, ist stets nur Ausschnitt aus einem endlos fortsetzbaren Durcheinander, Übereinander, Gegeneinander (kaum Miteinander) zahlloser Figuren. Die (meist nackten) Menschen werden zum bloßen Menschen-Material, bei dem es in wüstem, heillosem Durcheinander, in wilden Zuständen, ja in reinstem Chaos drunter und drüber geht. Es herrscht ein unglaubliches Tohuwabohu, eine drückend-bedrückende Enge, ein lebensgefährliches Gedränge von Leuten, die in diesem lärmenden Gemenge nur durchs Faustrecht, durch nackte Gewalt mit dem Leben davonkommen können: Analogien vielleicht zur Bedrängnis und Platzangst, die man angesichts einer überbevölkerten, wegen Überfüllung besser zu schließenden Erde am eigenen Leibe erfahren kann. Altdorfers „Alexanderschlacht“, die Mord-und-Totschlag- und Endzeit-Visionen eines Höllen-Breughel oder Bosch zählt von der Mehr zu seinen Vorbildern, die von einem ähnlichen Vollständigkeitsdrang besessen scheinen. Zumal die jüngste Arbeit, die „Enzyklopädie meines Welt-Bildes in einer einzigen Zeichnung“ (von über einem Quadratmeter Größe), pfercht in einem Kompendium, einer Art Atlas Abertausende von Figuren zusammen; große und kleine Situationen – Haupt- und Staatsaktionen und kleine lokale Ereignisse – überlagern und durchdringen sich (wie es die verschieden großen Bezeichnungen auf Landkarten auch tun); und man muß, um sich einen Überblick verschaffen zu wollen, schon ganz nahe (am besten mit einer Lupe) herantreten, um diese anarchische Welt der ver-rückten und verrückt spielenden, in ständiger Metamorphose befindlichen Gegenstände, Tiere und Menschen entdecken zu können, die durcheinanderwirbeln und -wimmeln, sich bekämpfen und drastisch kopulieren. „Völker ohne Raum“ liegen sich in den Haaren, im (auch komischen) Klein-Krieg und -Frieden jedes gegen jeden. (Schachteln mit Regenwürmern, wie sie Angler mit sich führen, gestatten einen ähnlichen Eindruck, auch Ameisenhaufen – nur sind diese geordneter). In der künstlerischen „Manier“ kann man sich erinnert fühlen an die Mauer-Graffiti und Toiletten-Zeichnungen, bei denen Kunst Ersatz-Befriedigung bedeutet, auch an die Kritzeleien, die man beim Telefonieren aufs Papier bringt, und natürlich an die Assemblage-Malweise Arcimboldos. Auch bezieht sich von der Mehr […] auf Leonardos „Traktat über die Malerei“, wo dieser auf eine diesbezügliche Bemerkung Botticellis antwortet: „Es ist, finde ich, nicht zu verachten, wenn du dich der Bilder erinnerst, die du zuweilen herausgelesen hast aus Mauerflecken, aus der Herdasche, aus Wolken und Gewässern: Betrachtest du sie mit Aufmerksamkeit, so wirst du überaus bewunderswerte Gebilde entdecken, welche das Genie des Malers auswerten kann, um Schlachten von Tier und Mensch zu gestalten, Landschaften oder Ungeheuer, Teufel oder andere phantastische Gegenstände, die dir Ehre machen. Diese verworrenen Dinge regen das Genie zu neuen Erfindungen an, doch muß man alle unbekannten Elemente zu zeichnen wissen ebenso wie Tiere, Landschaftsbilder, Felsen und Pflanzenwelt.“ Was sich aus von der Mehrs Bildgeschichten herauslesen läßt, ist kaum zu erzählen und abzuzählen, man kommt leicht vom Hundersten ins Tausendste; und ein Ende absehen zu wollen wäre ebenso absurd wie eine Antwort auf die alte Kinder-Frage: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen?“

Ausbildungskonzept von Prof. Timm Ulrichs

Katalog der Abt. für Kunsterzieher der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, Münster 1980

Lehre von Kunst (also von Philosophie mit anderen, nämlich bildnerischen Mitteln): zu lehren, wie man lernt zu lernen; wie man lernt, ein Autodidakt zu werden und zu bleiben; wie man lernt, ein Spezialist für alles zu sein, der sich die Freiheit herausnimmt, in alle Töpfe zu gucken, in alle Näpfchen zu treten und mit seinen Pinseln überall mitzumischen.
Aufgabe des Lehrers: als lebend-lebendiges Beispiel sich baldmöglichst überflüssig zu machen.

 

Renate Heidt, Katalog Farbstiftzeichnungen aus Deutschland und den Niederlanden 1980

Je mehr die individuelle und freie Linie zurückgedrängt wird, desto stärker breitet sich die Farbe aus. Die wie Malerei anmutenden Blätter Egbert von der Mehrs sind vollständig und in langwieriger Arbeit mit Farbe bedeckt. Er selbst schreibt: „Durch ständiges Übereinanderlegen unterschiedlich dichter farbiger Schraffuren und dem trockenen sowie nassen Ineinandervermischen der Farbstiftspuren entsteht ein Bildgrund. Dieser Vorgang ist vorwiegend motorisch bestimmt ohne vorheriges Konzept.“
Ohne anzweifeln zu wollen, daß Verteilung und Verdichtung der Farben nicht vorgeplant sind, sondern aus dem Arbeitsprozeß hervorgehen, läßt der fertige Bildgrund doch von der Motorik des Zeichnens nichts mehr erkennen. Die individuellen Bewegungsspuren sind verwischt, doch gerade dadurch entsteht ein Malgrund, der trotz seiner wolkigen Transparenz und Bewegtheit neutral genug erscheint, um winzige zeichnerische Einsprengsel als Einzelmotive erkennbar werden zu lassen, Formen, die manchmal noch in der Tiefe des Grundes befangen sind oder aus ihm herauszuquellen scheinen, manchmal auf ihn herabgestreut wirken. Diese Formen sind Spuren, Zeugnisse von etwas Konkretem, das sich aber, obwohl der Auflösung in den Grund ausgesetzt, noch von ihm differenziert, individualisiert.
Von der Mehr nennt seine Bilder 'ergänzbare Fragmente' und denkt dabei daran, daß er im Grunde neue Spuren entdecken, andere löschen könnte. Tatsächlich erscheinen aber weder die Verteilung der Einsprengsel noch die der dichten und lockeren Partien des Grundes dem Zufall überlassen; sie wirken vielmehr als ausgewogen komponiert im Hinblick auf das Papierformat, das nicht beliebig erweiterbar wäre, also nicht als fragmentarischer Ausschnitt verstanden werden kann. Das Thema der Veränderung und Vergänglichkeit wird nicht durch eine fragmentarische Gestaltungsweise, sondern durch das Verhältnis von Figur und Grund zum Ausdruck gebracht.
Sowohl von der Mehrs Thematik als auch seine Wahl der Bleistifttechnik und ihre malerische Anwendung sind aus seiner Arbeit als Graphiker bei archäologischen Ausgrabungen zu verstehen: Er hatte Erdschnitte und Erdflächenaufsichten zu zeichnen, mußte dabei genau alle Farbabstufungen und Fremdpartikel beachten und sich einer ohne Aufwand praktizierbaren Technik bedienen. In seiner Kunst hat er vor allem die feine Nuancierung der Farbigkeit weiter ausgeprägt.

 

Klaus Hofmann, Einführungsvortrag Ausstellung Wolfenbüttel 1982

Das Werk Egbert von der Mehrs gliedert sich in zwei Teile. Das eine sind seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen, das andere die farbigen Blätter, welche von der Archäologie inspiriert sind und in einem veränderten Maßstab stärker ins Detail gehen, überhaupt malerischer sind. Aus den späteren Arbeiten insbesondere wird der Zusammenhang zwischen beiden 'Werken' schlüssig, und es ließe sich eine Fortsetzung denken, bei der Zeichnung und Malerei sich vereinigen und die Modulation in dieser Gegenseitigkeit weiterführen.
Wenn ich für die folgenden Erörterungen die Zeichnungen als Einstieg nehme, so hat das den Grund, daß mir diese Zeichnungen seit längerem vertraut sind.
Sie werden von ihrem Autor als „Enzyklopädien“ benannt und verstanden, als ein Kompendium, eine Art visuellen Lexikons, ein Gesamt-Theater, eine Typologie der Menschheit und ihrer spezifischen Umgebung. Etwas wie die Zusammenfassung, das Zusammentragen von Welt, ihrer Dinge, die Reste von Natur, Häuser (Wohnbehälter), Zäune, Treppen, Fenster. Aber eben immer verwachsen mit den Menschen, ihrem Gewimmel, Geschiebe und Gekrieche. Die zahllosen einzelnen im Verband der Gattung. Die Menschen bei von der Mehr sind – pauschal besehen – Bestandteile der soziologischen Disziplin, gereiht, gebündelt, verflochten und verfilzt, summiert im Bündel der Familie, in Gruppe, Stamm und Horde, verstrickt durch Verwandtschaft, Beziehungs-Beziehung oder in Täter-Opfer-Rollen (kurzum in viktimologischen Bezügen).
Der einzelne ist Winzling, Kette im Glied, Rad der Geschichte (Kanonenfutter?), Horden-Wesen, sexuelle Maschine, in Verbund, Verband und Verein hausend mit Hinz und Kunz/Krethi und Plethi, irgendwie ins Joch gesteckt, einem Endlos-Zeichner ausgeliefert oder sagen wir einer Instanz über ihm, welche ihn zeugt, ihm Umrisse und Statur verleiht, Geschlecht zuteilt, ihn schindet, prügelt, quält. Wenn ihm Einsamkeit nicht genommen ist, so erhält er hingegen Gesellschaft und Geselligkeit. Und als ob da mehrere Generationen und Geschlechter Revue passierten.
Ich habe vor etwa zehn Jahren das Bread and Puppet Theatre gesehen in einer Aufführung im Freien, wobei u.a. die Geschlechtertafel als Vorlage diente, die endlose Aufzählung aus dem 1. Buch Mose, wer wen zeugte und wo alle Namen seiner Kinder aufgezählt werden, durch mehrere Geschlechter in nicht enden wollender Litanei. Man wird jetzt sagen, Langweiligeres gibt es nicht als das Geschlechterhersagen und wer wen zeugte; man könne ebensogut das Telefonbuch nehmen. Ich mag alle anderen Stücke und Szenen vergessen haben, aber die genannte Vergegenwärtigung aus dem 1. Buch Mose nicht. Weil da neben der monotonen Verlesung im Bruchteil von Sekunden eine Vielzahl von Masken vorübergetragen wurden, weit mehr Masken als Schauspieler/Akteure vorhanden sind, mit winzigen Gesten war manchmal ein Typisches angedeutet, ehe die Nachfolgenden das Spektakel fortführten und nachher der Eindruck entstand, im Eiltempo sei Geschichte, seien mehrere Jahrhunderte vorübergestrichen. Ich habe abschweifend hier verweilt, weil die Enzyklopädie des Egbert von der Mehr dieses Erlebnis zurückruft. Auf seinen Zeichnungen sind die Menschen nahezu unzählbar, man müßte Volkszählungen organisieren oder einen Computer oder sonstwas zur Hilfe nehmen.
Wenn wir die Menschen-Welt unseres Autors genauer besehen, gleichsam den Voyeur spielen, mit der Lupe das Feld abgrasen, abtasten, die vielen Mitbewohner dort der Reihe nach besehen, so ist das ein mehrstündiges Unternehmen, und wir sollten nicht außer Acht lassen, daß für die Hervorbringung der vielen ihr Erzeuger wesentlich mehr Zeit benötigt hat: Stunden, Tage, Wochen. Wir werden auch Unterschiede zwischen groß und klein wahrnehmen. Während viele als Gruppe oder Heer, Horde usf. erscheinen, sind ein paar hier und dort hervorgehoben. Sie sind größer, haben stämmige Körper, sind eigentlich Riesen. Und ungeachtet der perspektivischen Gesetze kann so ein Riesling weit hinten die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er überragt die Winzlinge und die Wichte vorn oder hinten. Er gliedert das Feld, setzt Kontrast und Gewicht. Der ist herausgewachsen wie etliche andere, um den gruppieren sich Kleine und Schwächere. Selbst bei solchen Hünen noch scheint sich etwas wie die Gesellschaft abzubilden: das sind strategische Basen, das sind Machthaber und Leitende, politisch Wirksame und Leute von Einfluß. Die überragen das Feld und die Horde, das sind Führer, tonangebendes Material, visuell Unübersehbare, Potentanten und Über-Potenzen, Funktionäre, Manager und Ur-Väter oder Gurus oder aber Urweiber, Muttertiere, Monster aus welcher Welt auch immer. Und die sind so groß, weil die anderen so klein sind. Die Umwelt: das sind Straßen und Straßenteile in einem geordneten Chaos, zwischen Ruinen oder begonnenem Neubau, ein Labyrinth von Stiegen, Winkeln, Ecken, dazwischen – wie eingebacken – die Menschen, aber auch Tiere, Skelette, Bettszenen, Wohnkäfige, Gerümpel, Autofriedhöfe, eine teils verwunschene Welt mit Radfahrern, mit Kardinal und Bischof, Maurer, Pilot, Wanderer, Bierabzapfer, viel Nacktes und kleine Ferkeleien, Badende, Tanzende, Koitierende, Fragmente und Bruchstücke, Pandämonium, Friedhof, Folterstätte, Alptraum, Prothesen-Welt, Welt aus Exhibitionismus, Endzeit-Vision und Märchenwelt in einem, eine Welt aus Kubins Die andere Seite, übervölkert und bedroht, Bosch und Höllenbreughel, U-Comics, Schlaraffia, Land Liliput, eine Welt aus vielen Geschichten, welche simultan laufen. Ein mehrdimensionales Puzzle, Suchbilder, Vexierbilder von einem Erzähler, Romanstoffe in Fülle. Die enzyklopädische Welt des Egbert von der Mehr in vorwiegend leicht geschrägter Frontalität und in Diagonalität ist wie aus großer Distanz gesehen. Das Personal, die Bildbewohner und Bildbesetzer, schrumpfen mit Hilfe des großen Abstandes auf ein untermenschliches Maß, zuweilen sogar auf eine Form, welche sie uns wahrnehmen läßt als Körper der sie umgebenden Dinge, als organische oder anorganische Substanz, welche demnächst per Mutation Menschen hervorbringt oder in einer Umkehr phasenhaft die Menschen zurückverwandelt in jenen Stoff, aus dem sie vielleicht einmal kamen. Aber die Klein- und Kleinstwelt des Egbert von der Mehr ist alles andere als niedlich. Die Menschen haben verquält verzerrte Münder, sie tragen unförmige Brillen oder gasmaskenähnliche Schutzhelme, ihre Gliedmaßen – sofern sie noch beisammen sind – wirken verzerrt. Selbst beim Liebesspiel bleibt ihr Vergnügen in sehr armseligen Grenzen. Paradiesgärten sind diese Umgebungen nicht. Es sind Geschichten mit vielfältigen Handlungen und in Varianten. Oder wird hier eine einzige Geschichte permanent von neuem erzählt? Eine narrative Kunst, kompliziert wie die Handlungsfäden und Geschehnisse in einem dickleibigen Roman, einem Roman mit kritisch-satirischem und burleskem Einschlag. Manchmal taucht der Name des Zeichners auf, bei einem offenen Sarg und in der Nähe von Skelett-Teilen. Die Namensschilder von Pizza-Buden oder Restaurants sind nur als verstreute Teile zu sehen, man muß sie sich buchstabierend zusammensetzen. Die Welt nach einer Katastrophe, nach Erdbeben oder Krieg. Einige sind davongekommen, aber unbeschädigt ist niemand.
Die Welt kennt Kriege, Krankheiten und Seuchen, Mord und Totschlag, seit es Menschen gibt. Heute hingegen die einzigartige Situation, daß die Möglichkeit näherrückt, mit Hilfe intelligenter Erfindungen das gesamte Leben von der Erde zu tilgen. Können wir den Künstlern verdenken, wenn sie gruselige Alpträume aufzeichnen?
Die Dinge kommen aus dem Unterbewußtsein, aus dem Gedächtnis der Menschheit, aus dem Urschlamm, in der Wohngegend der Märchen, Mythen und Sagen, aus Tiefschlaf, aus Traumzone und Alptraum gelangen sie vom Kopf in die Finger. Goya: „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer.“

 

Kein Zu-Rande-Kommen: Über den Bilderkosmos des Egbert von der Mehr / Ulrich Horstmann 1981

Seit 1976 zeichnet Egbert von der Mehr seine „Enzyklopädien“. Magritte malte in der Küche. Von der Mehrs Arbeitstisch befindet sich im Schlafzimmer, und der Genius loci rumort in den hier entstehenden Werken, diesen brodelnden Bildkaskaden, in denen Erinnerungsfetzen vorbeifluten, Träume aufwallen, Phantasien emporsieden und die Strudel der Nachtmahre, des Monströsen und Verhexten lauern. Kein Rahmen, der das noch faßte, zähmte, umgrenzte; es steigt aus ihm wie aus einem Gullyrost des Unterbewußten, und ist eine Bildfläche überschwemmt, dauert es nicht lange, bis irgendwo unter einem makellosen Bogen Papier das Sickern und Spülen von neuem beginnt und die Bilderschwemme sich ihren Weg sucht, herauspresst und ans Tageslicht quillt. Seit 1978 sehe ich zu. Fassungslos. Bewundernd. Die Entstehungsphasen und -schübe keiner der Enzyklopädien sind fotografisch dokumentiert, und das ist jammerschade, weil der Prozeß, seine Eigengesetzlichkeit und Kybernetik, ein zweites Kunstwerk darstellt, das im Endprodukt nur noch mittelbar, als Unterströmung gleichsam, gegenwärtig ist. Von der Mehr baut seine Arbeiten nämlich nicht schicht- oder zeilenförmig von oben nach unten oder von unten nach oben auf, die Bilderflut steigt nicht wie das Wasser in einem Aquarium, sondern was sich abspielt, gleicht eher dem sich Ausbreiten einer Flüssigkeit auf einer unebenen Fläche oder einem Löschblatt.
Aber nein, es ist, weil diese Metaphorik im Physikalischen, blind Naturgesetzlichen hängenbliebe, vielmehr eine Art Pflanze, die da Fuß faßt auf ödem weißen Grund – Pioniervegetation, hartnäckig, robust, geduldig wie Flechtenwuchs, der sich vorarbeitet entlang unsichtbarer Spalten, Risse und Unebenheiten, so daß anfangs vielleicht eine handtellergroße Zone bedeckt ist, von der aus sich dann Protuberanzen und Ausstrahlungen vorschieben, die schließlich und endlich die gesamte Fläche bis in den letzten Winkel erobern. Oder wieder nein, auch dieser Vergleich verkürzt, verniedlicht sogar. Gesundes, wenn auch gefährdetes Wachstum im Einklang mit der Natur? Von der Mehrs Bildwelten sind nicht heil. Auch Krebs wächst und wuchert. Die Enzyklopädien – Federmetastasen – zeigen den Müllplaneten Erde, übervölkert, zerfressen, ein Siechenhaus und Gruselkabinett, sind Einladungen in das Pandämonium einer abendländischen Zivilisation, durch das schon Bosch und Höllenbreughel, Goya und Kubin Führungen veranstalteten. Aber ist alles Un-Heile, ist das Unheil krankhaft? Ein maligner Tumor, den der Maler fürs Lehrbuch der Sozio-Pathologie abbildet? Wo bleibt da, bitteschön, das Augenzwinkern im diagnostischen Blick von der Mehrs, der derbe Spaß, das Lustige, Lustvolle, Üppige, Stramme, Strotzende, das in den Enzyklopädien doch auch grassiert? Wo das pralle Leben, das sich da austobt in seiner Lädiertheit, das seine Prothesen schwenkt, sich mit beiden Händen an seinen Erektionen festhält – und also gar keinen Finger mehr freihat, um mahnend auf den Betrachter zu zeigen?
Die Enzyklopädien sind keine Therapiezentren und keine moralische Anstalt. Die Figuren werden nicht abgestraft, und wir, die wir staunend vor soviel zeichnerischer Virtuosität und altmeisterlicher Geduld stehen, werden es auch nicht. Vielmehr passen wir als Voyeure bestens ins Bild, machen mit, stellen nach und vor, was dort wiedergegeben ist, wenn wir uns mit wachsender Entdeckerfreude die Brille zurechtrücken und die Nase noch ein Stückchen näher an die Pikanterien und Schweinigeleien heranschieben, denen auch ein Félicien Rops seine Anerkennung nicht versagt hätte.
Wieder falsch, diese Unterstellung des Unverfänglichen und einer kulinarischen Obszönität … Man merkt schon, wer über die Enzyklopädien anders als enzyklopädisch zu schreiben versucht, der kommt in Teufels Küche, und wenn ihn dort der Chef de Cuisine auch noch zu reiten beginnt – übrigens eine ganz von der Mehrsche Bildidee –, dann endet der Annäherungsversuch wie bei mir mit einem Gedicht. Womöglich macht das alles noch schlimmer – oder aber einiges wieder gut:

VOM ENZYKLOPEN VON DER MEHR

Ein Laster kippt das rohe Fleisch
und Seetang oder Haushalts-
müll
und wie das zappelt harkt
verkopuliert
und zuckt
die Maden drehn im Buttermeer
so schwemmt's und wächst's
und macht sich breit
und deckt den Rahmen zu
den Tisch das Haus
und Gartenstuhl
da kocht er kocht und kocht
den Brei
der schwappt breit auf vor den Fassaden
in Straßen quillt der Menschenteer
nehmt euch in acht vorm VON DER MEHR
nehmt euch in acht vorm VON DER MEHR
der lockt in seine Enzyklopädien
und tut sie auf zum Leibermoor
das gluckst und sinkt und greift empor
und flimmert wie vor Kinowänden
und stellt dann plötzlich still
flugs kommt die Feder kalt hervor
nimmt Maß fährt um
und zeichnet uns
selbst
bis zum Hals
im Bildermoor